Was für ein Krimi! Schon am Montagmittag lag eine ungeheure Spannung in der heißen Sommerluft im Stadion von Versailles. Was die Zuschauer geboten bekamen war vielfach eine Demonstration von Vielseitigkeitsreiten auf allerhöchstem Niveau. Den kunstvoll gestalteten Parcours überwanden die allermeist sehr gut springenden und frisch wirkenden Pferde mit ihren Reitern unter großem Jubel des Publikums.
Am Ende des Wettkampftages gab es nach dem pechbehafteten Geländetag ein Happy End für die deutschen Buschreiter: Michael Jung geht mit Chipmunk FRH gleich in vierfacher Hinsicht in die Geschichte ein:
- erster dreifacher Einzelolympiasieger in der Vielseitigkeit
- Sieg mit den geringsten Minuspunkten
- der erste Reiter nach dem neuen Format mit zwei Springrunden (seit 2004), der nach dem Gelände führte und am Ende auch die Goldmedaille mit nach Hause nahm
- Außerdem ist Deutschland die erste Nation, die fünfmal in Folge den Einzelolympiasieg für sich beanspruchen kann:
🇭🇰 2008 – Hinrich Romeike und Marius
🇬🇧 2012 – Michael Jung und Sam FBW
🇧🇷 2016 – Michael Jung und Sam FBW
🇯🇵 2021 – Julia Krajewski und Amande de B‘Neville
🇫🇷 2024 – Michael Jung und Chipmunk FRH
Doch der Reihe nach: Der Tag begann zunächst um 7:30 Uhr (bzw. für die drei deutschen Pferdepflegerinnen Li Ann Kirchheim, Jenny Brendel und Sandra Decker wahrscheinlich eher mitten in der Nacht) mit der zweiten Verfassungsprüfung. Alle deutschen Pferde zeigten sich in bester Manier und wurden ohne Probleme vom Veterinär durchgewunken. Mit Spannung wurde erwartet, ob Christoph Wahler mit Carjatan S nach dem unglücklichen Sturz im Gelände zur Verfassung antreten würden. Doch Carjatan hatte seinen Rumpler des Vortages glücklicherweise ohne Blessuren überstanden und konnte so Dank des speziellen olympischen Reglements nach bestandener Verfassungsprüfung im abschließenden Teamspringen noch an den Start gehen.
Deutlich mehr Spannung bei der Verfassungsprüfung gab es insbesondere bei den Japanern, die nach dem Gelände auf einem sensationellen dritten Rang lagen. Cekatinka, das Pferd des japanischen Teamreiters Ryuzo Kitajima sowie MGH Grafton Street (Yoshiaki Oiwa) wurden in die Holding Box gebeten. Während Oiwas Pferd bei der Wiedervorstellung das OK der Jury bekam, wurde Cekatinka aus der Holding Box zurückgezogen. Dies bedeutete, dass Japan ihren Ersatzreiter für das abschließende Springen aktivieren mussten und mit zusätzlichen 20 Strafpunkten belastet wurden. Dadurch fielen sie von Platz 3 nach dem Gelände auf den fünften Platz zurück und die Schweizer rückten vorläufig auf die Bronzeposition vor.
Die Teamentscheidung
Um 11 Uhr sollte das Teamspringen beginnen. Zu dieser Zeit wurde bereits die 25 Grad Marke geknackt und auf der gut gefüllten Tribüne sah man neben zahlreichen Flaggen (meist blau-weiß-rot gestreift) auch viele wedelnde Fächer, um den Nachmittag auf der unüberbedachten Tribüne zu überstehen. Das deutsche Team begutachtete den Parcours mit Springtrainer Marcus Döring, Peter Thomsen und auch der Disziplintrainer Gelände Rodolphe Scherer gab zusätzlich wertvolle Tipps für den 13 Hindernis langen und 1,25 Meter hohen Teamparcours. Insbesondere Julia Krajewski inspizierte die gestellten Aufgaben genau und ging den Kurs sogar mehrmals komplett ab.
Als sich die ersten Einzelreiter mit dem Parcours des Teamspringens noch deutlich schwer taten und reihenweise Abwürfe und Zeitfehler kassierten, konnte man sich noch kaum vorstellen, dass der Kurs ohne Fehler zu überwinden sein würde. Der erste Reiter, der die Hindernisse fehlerfrei und auch innerhalb der vorgegebenen Zeit absolvierte war schließlich Christoph Wahler als 13. Starter. Mit seinem Holsteiner Carjatan S (Besitzer: Lena Thoenies & Reiter) sah der Parcours spielerisch aus und die beiden fanden nach dem unglücklichen Sturz des Vortages noch einen versöhnlichen Abschluss bei ihrem Olympia Debüt. Wir sind sehr froh, dass Carjatan sich nichts getan hat und auch offensichtlich kein bisschen an Selbstbewusstsein eingebüßt hat. Auch ihr großer Tag wird noch kommen!
Auch wenn das Team nicht mehr für eine Mannschaftsplatzierung in Frage kam, mussten alle Starter im Teamspringen für eine faire Bepunktung an den Start gehen. Nicht mal eine Sekunde zu lange brauchten Julia Krajewski und Nickel 21 (Besitzerin: Sophia Rössel) bei ihrer ersten Springrunde und bekamen somit 0,4 Zeitstrafpunkte angerechnet. Ansonsten drehten die beiden aber eine Bilderbuchrunde und sie durften vom 11. Platz aus in das Einzelspringen starten. Wirklich beeindruckend zu beobachten wie abgeklärt und unbeirrt der erst 10-jährige Numero Uno Sohn all die Aufgaben vor der großen Kulisse annimmt und umsetzt. Vielleicht half es, dass er gerade einmal 8-jährig schon beim berühmten Jump & Drive in Aachen an den Start ging. Die Atmosphäre in den beiden Stadien war wahrscheinlich vergleichbar.
Auch Michi Jung und sein 16-jähriger Chipmunk FRH (Besitzer: DOKR, Joachim Jung, Heike & Klaus Fischer) zeigten im Parcours eine super Runde, nur am Oxer, dem Einsprung der letzten Kombination kam Chippie mit der Hinterhand von oben an die Stange – sie fiel! Damit betrug ihr Ergebnis vor dem Einzelspringen -21,8 Punkte. Bei Laura Collett und London 52 fiel ebenfalls ein Hindernis, ausgerechnet die am letzten Sprung oben eingelegte hauchdünne Planke. Damit war klar, dass Michi Jung als Führender ins abschließende Einzel-Springen gehen würde.
Im Mannschaftswettbewerb gewinnt Großbritannien (Tom McEwen mit JL Dublin, Laura Collett mit London 52 & Rosalind Center mit Lordships Graffalo) souverän die Goldmedaille vor den Franzosen, die im Springwettbewerb je mit Abwürfen dafür sorgten, dass das auf Gerüsten aufgebaute Stadion stehen blieb. Wäre einer von ihnen Null geritten, dann hätten die französischen Fans die Tribünen mit ihrem Trampeln und Beben vor lauter Emotionen wahrscheinlich zum Einsturz gebracht. Doch für die Sensation des Tages sorgten die Japaner, die trotz der Schwächung ihres Teams durch den Ausfall von Cetakinka sehr starke Nullrunden drehten und die Schweizer vom vorübergehenden Bronzeplatz wieder verdrängten. Sie gewannen die erste Vielseitigkeitsmedaille bei olympischen Spielen überhaupt. Die letzte olympische Medaille hing 1932 um den Hals eines japanischen Reitsportlers (Quelle: Equi Ratings). Ein besonderes Highlight war die Siegerehrung der japanischen Equipe, denn deren ausgewechselter vierter Mann Ryuzo Kitajima trat aus Mangel an Pferden zu Fuß die Ehrenrunde an und heizte das Publikum, welches ohnehin schon völlig aus dem Häuschen war, weiter an. Mit einem japanischen Fan gingen die Nerven vor den Springrunden seiner Landsmänner völlig durch und er schrie für den durchschnittlichen Europäer nicht zu verstehende Sätze in das mucksmäuschenstille Stadion. Beim ersten Mal wurde dies noch hingenommen, beim zweiten etwas übertriebenen ,,Anfeuerungsversuch” während des Einzelrittes von Yoshiaki Oiwa war sein Besuch im Stadion jedoch beendet und er wurde vom Security-Personal hinausbegleitet.
Auch wenn ,,Hätte, wenn und aber” keine Tatsachen verändert, so soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Deutschland ohne den Sturz von Christoph Wahler bzw. die zusätzlichen 200 Strafpunkte eine reelle Chance auf die Goldmedaille gehabt hätte. Großbritannien gewann die Goldene Medaille mit -91,3 Punkten, Deutschland hatte zum Abschluss mit den Strafpunkten durch das Ausscheiden 283,3 Minuspunkte auf dem Konto. Das deutsche Team beendete die Olympischen Spiele 2024 auf dem 14. Rang.
Die Einzelentscheidung
Die Mittagspause nutzten die Reiter und Pferde noch einmal zum Durchatmen und Abkühlen im klimatisierten Stallbereich. Für die Zuschauer ohne Bereich mit Klimaanlage taten es dagegen die Bäume um das Stadion herum, wo im Gras sitzend oder liegend im Schatten entspannt wurde. Einige Reiter lugten sogar durch die Absperrung aus dem Bereich in den nur akkreditierte Personen Zutritt haben und waren umgehend von Fans und Familie umringt. Ab 15 Uhr wurde es im stattfindenden Springen um die Einzelmedaillen noch einmal so richtig spannend.
Der Parcours war mit 9 Hindernissen deutlich kürzer, die Sprünge mit bis zu 1,30 Meter aber auch etwas höher. Es gingen die bis dato besten 25 Paare an den Start. Interessant zu beobachten war, dass die meisten Pferde in der zweiten Runde sogar noch etwas besser sprangen als im ersten Parcours.
Julia Krajewski und der von Hindrick Stüvel gezogene Nickel drehten eine blitzsaubere Runde, konnten den Parcours ohne Fehler beenden und sich am Ende des Tages Platz 11 sichern! Was für eine Leistung der 35-jährigen Warendorferin, die mit Nickel nun ein weiteres Pferd in den Weltklassesport gebracht hat und die vor einer Woche noch nicht einmal wusste, dass sie in Paris überhaupt wirklich an den Start gehen würde. Wie Julias (Dressur-)Ergebnis hätte aussehen können, wenn Team Deutschland nicht das Los 1 in der Startfolge gezogen hätte, wird für immer ein Geheimnis bleiben.
Auch die bis dato an Rang 3 liegende Laura Collett (GBR) mit London 52 und der Runner-Up Christopher Burton (AUS) mit Shadow Man blieben ohne Fehler und übten Druck auf den Führenden Michi Jung aus, der als Letzter den Parcours bestreiten sollte. Völlig entspannt trabte der Hannoveraner Chipmunk FRH aus der Zucht von Dr. Hilmer Meyer-Kulenkampff in den Parcours ein. An diesem Tag kam endlich alles für Michi und seinen Contendro-Sohn zusammen. Sie ritten geneinsam in einer stilistisch einwandfreien Runde (mit der Perfektionist Michi sich allerdings nicht ganz zufrieden zeigte) ,,Null” und sicherten sich ihren ersten gemeinsamen Olympia-Titel. Seit nun etwas über fünf Jahren kennen die beiden einander und sie konnten schon viele grandiose Erfolge feiern. Der ganz große Coup bei einem Championat blieb jedoch bisher noch aus. 2021 der ausgelöste MIM-Clip in Tokio, 2022 die zwei Abwürfe im Springen bei der WM in Pratoni und 2023 der Sturz in der Geländeprüfung bei der EM in Haras du Pin – bisher sollte es einfach nicht sein. Doch die beiden hätten sich keine schönere Kulisse für diesen historischen Tag aussuchen können: Strahlend blauer Himmel, das Château im Hintergrund und seine Frau Faye und Sohn Lio vor Ort mit dabei – so macht Siegen doppelt viel Spaß!
Michi und ,,Chippie” gewannen mit -21,8 Punkten. Dies ist die geringste Minuspunktezahl mit der jemals bei den Olympischen Spielen die Prüfung beendet wurde. Platz 2 ging an Shadow Man und den Australier Christopher Burton, der nach einigen Jahren Vielseitigkeitspause erst Anfang diesen Jahres sein Comeback im Busch feierte. Zu seinem Dressurergebnis von -22,0 Punkten addierte er lediglich 0,4 Zeitstrafpunkte hinzu. Über die Bronzemedaille freute sich Laura Collett mit ihrem 15-jährigen London 52: Nachdem sie am Mittag bereits das Team zu Mannschaftsgold geführt hatte, veredelte sie nun auch noch ihren Nullfehlerritt im zweiten Parcours mit einer Einzelmedaille.
Ein weiteres Highlight war die sich anschließende Medaillenvergabe: Symmetrisch und perfekt ausgerichtet, so wie alles bei diesen olympischen Reiterspielen, stand das Podium mittig vor der Kulisse des Schlosses. Schade war, dass viele Franzosen, die zahlenmäßig ganz klar die größte Masse der Zuschauer ausmachten, zwar sehr gerne feiern, aber am Liebsten eben ihre eigenen Landsmänner. So leerte sich das Stadion doch merklich nach der Medaillenvergabe der Teams, an dem die Franzosen ja als Silbermedaillengewinner teilnahmen. Michi nahm seine Einzelmedaille also leider vor zum Teil ausgedünnten Rängen entgegen. Aber auf der Ehrenrunde mit seinem Chip waren die verbleibenden Zuschauer trotzdem so laut, dass der Unterschied höchstens marginal gewesen sein dürfte. Als Michi als Goldmedaillengewinner auf seine abschließende Einzelrunde durch Stadion startete, wendete er auf Höhe des Schlosses auf die Mittellinie ab und galoppierte direkt auf die Fotografen zu, die ihr Glück wahrscheinlich kaum fassen konnten. Michi, Chip, die Goldmedaille um den Hals und das Schloss im Hintergrund – ein Motiv für die Ewigkeit.
Neben den Medaillengewinnern war aber eindeutig der Vielseitigkeitssport bzw. seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit der größte Sieger der letzten Tage: Diese Kulisse, die es wahrscheinlich so in den nächsten Jahrzehnten nicht in vergleichbarer Weise geben wird und die Atmosphäre die die Zuschauer vor Ort kreierten gaben einen wunderbaren Rahmen. Im Zentrum standen jedoch die zwei- und vierbeinigen Athleten: Der Umgang der Buschreiter mit ihren Pferden in- und außerhalb des Wettkampfes war ein Paradebeispinel dafür, warum dieser Sport unvergleichlich ist und die besonderen Reiter-Pferde Partnerschaften auch in Zukunft unbedingt bei olympischen Spielen eine Bühne geboten bekommen sollten.
Danke an alle, die in der Vorbereitung und vor Ort, sei es als Reiter, Trainer, Helfer, Pferdepfleger, Pferdebesitzer, Züchter oder Zuschauer ihren Teil dazu beigetragen haben, dass dieses Fest des Vielseitigkeitssports so stattfinden konnte.
À bientôt Versailles!